Es ist wieder Zeit, hier Bücher zu besprechen, die mich dieses Jahr bewegt haben. Letztes Jahr war es 10 Jahre her, dass ich damit angefangen habe, aber dann gab es nichts in den Jahren 2017-2021, aus diversen Gründen.
Und wie immer, trotz der Nummerierung, ist dies keine Reihenfolge.
Fangen wir also an.
1) Medea und ihre Kinder, Ljudmila Ulitzkaja
Dies ist einer von Ljudmila Ulitzkajas ersten Romanen, und schon hier konnte man merken, was für eine gute Schriftstellerin sie ist.
Der Roman ist ein Familienroman zentriert um Medea Sinopli, eine pontische Griechin aus Feodosija auf der Krimhalbinsel, und einen Sommer bei ihr in einem Sommer in den 80er Jahren. Sie ist eine Witwe, und obwohl sie und ihr verstorbener jüdischer Mann selbst nie Kinder bekamen, betrachtet sie ihre Nichten, Neffen und deren Kinder als ihre Kinder, und sie ist auch das einzige, was diese Familie zusammenhält.
Der Roman ist zudem nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt, man erfährt von der Ankunft diverser Familienmitglieder in Feodosija, und dann hört man ihre Lebensgeschichte. Es werden dann zudem hier und da einige Dinge erwähnt, die einen zuerst ziemlich trivial vorkommen, bis man dann später wieder mit diesen Dingen konfrontiert wird und man dann einsieht, wie dies gut im Text vorher angedeutet wurde.
Der Roman wirkt zudem heute, zehn Jahre nach der illegalen Annektierung der Krim im Frühjahr 2014, zudem in einem ganz anderen Licht als zu der Zeit, in der Ulitzkaja den Roman schrieb. Im Vorwort erinnert sie daran, dass die Krim zu Sowjetzeiten ein sehr beliebter Urlaubs- und Kurort war, und sie selbst viele schöne Erinnerungen von dort hat.
Ich würde auch sagen, dass der Roman ein literarisches Statement für eine nun längst vergangene Zeit auf der Krim ist, und dass nicht nur wegen der Zeit vor der Revolution 1917. Es wird auch die Vertreibung der Krimtataren 1944 angesprochen, und wie viele Establishments dort in den darauffolgenden Jahrzehnten nicht an Krimtataren vermieten wollten - oder durften.
In Medeas Familie sieht man außerdem wie die pontischen Griechen in andere Nationen der Sowjetunion einheirateten, unter anderen auch Armenier und Koreaner.
Ein kleines Detail am Anfang des Romans dass ich sehr amüsierend fand war dieses: So besucht Medea das Grab ihres verstorbenen Mannes, der - obwohl er jüdisch war, auf dem griechischen Friedhof lag - als Parteimitglied natürlich einen Stern auf dem Grabstein hatte. Diesen Stern hatte Medea dann später so verändert, dass er wie ein "Weihnachtsstern" aussah.
2) unterwegs verloren, Ruth Klüger
Vor zehn Jahren habe ich Ruth Klügers Erinnerungen über ihre Jugend in den Zeiten der Verfolgung und des KZ,
weiter leben, hier besprochen. Das Buch endete mit der Migration mit ihrer Mutter, mit der sie ein ziemlich ambivalentes Verhältnis hatte, in die USA.
Hier geht es dann um die Jahre danach, in den USA. Von ihrer Liebe zur deutschen Sprache und Literatur, und ihrer gescheiterten Ehe mit einem etwas älteren deutsch-jüdischen Einwanderer, und ihr später ebenfalls entfremdetes Verhältnis zu ihren Söhnen und auch dessen Familien.
Wie in ihren ersten Erinnerungen erzählt sie alles sehr schonungslos und ohne jegliche Sentimentalität, und man kann wirklich verstehen, wieso sie so fühlte.
Einen Punkt im Buch den ich als sehr interessant fand, war der hier: Als sie damals "weiter leben" geschrieben hatte, schickte sie es - unter anderen - zuerst zum Jüdischen Verlag Suhrkamp, wo es dann abgelehnt wurde, weil es nicht "literarisch genug" war. Kurze Zeit danach trifft sie dann den damaligen Verlagschef, der ihr das damals neu erschienene Buch
Bruchstücke von "Binjamin Wilkomirski" gab, und sagte "so schreibt man eine Erinnerung an die Schoa" (oder so ähnlich). Kurze Zeit später kam jedoch heraus, dass das Buch eine reine Fabrikation war, und dass "Binjamin" eigentlich ein Schweizer Nichtjude namens Bruno Dösseker ist der mit dem Buch einige Kindheitstraumen aus der ländlichen Schweiz verarbeitete, indem er sie im Mantel der Schoa kleidete. Somit war er einer der ersten prominenten Kostümjuden.
Und hier frage ich mich dann, warum müssen Erinnerungen wie die aus der Schoa den "literarisch" sein, wenn diese die Erinnerungen der Person wiedergeben zum Zwecke der Erinnerung sind, damit diese Zeit nie vergessen wird?
Und so wie der Vorgänger ist "unterwegs verloren" sehr kritisch gegenüber der "Museumskultur" der Schoa.
Ruth Klüger war eine gute Schrifstellerin. Sie starb im Herbst 2020 im Alter von 88 Jahren in ihrem Zuhause in Kalifornien.
3) Briefe nach Breslau, Maya Lasker-Wallfisch
Ich habe vor 9 Jahren das Buch ihrer Mutter, Anita Lasker-Wallfisch´s "Ihr sollt die Wahrheit erben" gelesen, und war auch wirklich von dem Buch bewegt. (Warum ich das Buch allerdings dann nicht im
Post von 2015 erwähnte, weis ich nicht)
Maya Lasker-Wallfisch´s Buch ist eine Erinnerung an ihr eigenes Leben als Tochter von Überlebenden, und ihre Briefe an ihre verstorbenen Grosseltern und ihrer in Israel verstorbenen Tante, nach der sie benannt wurde.
Interessant ist, das bei Kindern von Überlebenden sehr oft das Trauma an das erste Kind weitergeleitet wird, im Falle von Maya allerdings wurde das Trauma an ihr, das zweitgeborene Kind, weitergegeben, und nicht an ihren grossen Bruder Raphael.
Sie erzählt auch, wie sie in die Drogenfalle hereinfiel, dann in eine Beziehung mit einem Jamaikaner kam, der dann ebenfalls in diese Falle kam, und wie sie dann zurück nach England kam, wo sie dann in den Entzug kam und dann wieder ihr Leben beginnen konnte - aber das erst wieder nachdem sie in einer Beziehung mit einem von der Entzugsklinik war, der dann leider wieder in diese Falle fiel. Ich würde diesen Teil des Buches jeden naheliegen, der selbst mit Drogen zu kämpfen hat, denn das ist nichts zum spaßen und kann das Leben zerstören.
Maya erzählt auch, wie im Haushalt ihrer Eltern nichts jüdisches war - keine Besuche in der Synagoge (eine Tatsache, die ihre Mutter Anita in ihrem eigenen Buch bereute), kein Sederabend zu Pesach, nichts. Maya kam erst mit dem Judentum in Berührung, als sie den Sohn des konservativen Rabbiner Louis Jacobs (1920-2006) heiratete. Diese Ehe hielt auch nicht ewig, aber sie bekam da durch endlich etwas Stabilität in ihr Leben und wurde Mutter.
Sie erzählt auch von ihrer Reise nach Breslau und Auschwitz mit ihrer Mutter, und wie genervt ihre Mutter von den Filmaufnahmen während der Reise war.
Das Buch ist jedenfalls sehr gut und geht auch rein in die Psyche von der zweiten Generation der Überlebenden.
4) Die Schleierkarawane, Ismail Kadare
Letzten Sommer hatte ich endlich die Gelegenheit Ismail Kadares Novellensammlung "Die Schleierkarawane" zu lesen, und war wirklich erstaunt, wie gut es war - vor allem die erste, Titelgebende Erzählung.
Kurz nachdem ich den Band gelesen hatte, verstarb Ismail Kadare in Tirana am 1. Juli im Alter von 88 Jahren.
Nicht, dass ich je was schlechtes erwartet habe, nur ist mir dann aufgefallen wie gut es geschrieben war und wie gewagt der Text war, wenn man weis, dass es in der Spätzeit des stalinistischen Diktators Enver Hoxha (1908-1985) geschrieben ist. Es muss hier gesagt werden, dass Hoxhas Albanien so zusagen das Nordkorea von Europa war, und das jegliche Religion sowie Kritik an dem System verboten war. Und deswegen verlegte Kadare seine Werke meist in die Zeit des Osmanischen Reiches, zu der Albanien mehrere hundert Jahre gehörte, und in der Zeit wurde der Islam auch die vorherrschende Religion des Landes. Hier muss auch gesagt werden, dass Kadare selbst - obwohl in eine muslimische Familie reingeboren - Zeitlebens nie viel vom Islam hielt, dem Christentum jedoch sehr positiv eingestimmt war. Trotz dessen ist er selbst nach dem Zusammenfall des Kommunismus nie (offiziell oder offen) zum Christentum übergetreten.
Die Kritik am Islam - beziehungsweise der Verschleierung - ist sehr deutlich in der ersten Geschichte, in der ein Gesandter aus Konstantinopel, Hadschi Milet, in den Balkan geschickt wird, um dort den Schleier an den lokalen Frauen nahezulegen. Die Suggestion Kadares ist, dass der Schleier nicht dort hingehört, und dass bekommt der Hadschi Milet auch gut zu hören, auch nach dessen ersten Kontakt mit dem Christentum. Bei seiner Rückkehr wird er wegen diesen Zweifeln, die er wohl im Schlaf ausspricht, von den Machthabern bestraft.
Die Kritik an das stalinistische System Enver Hoxhas ist hier besonders klar. Überraschenderweise wurde es damals, ein Jahr vor Hoxhas Tod, dennoch veröffentlicht.
Mehr möchte ich nun nicht verraten.
5) Der Ausflug der toten Mädchen, Anna Seghers
Diese Novellensammlung von Anna Seghers las ich zum ersten Mal im Dezember 2011, in der Zeit, in der ich sie erstmals entdeckte. In der Zeit war ich auch ziemlich glücklich, der einzige in meiner Klasse zu sein, der wusste wer sie und Isaac Bashevis Singer waren.
Letzten Frühling habe ich mir den Band wieder durchgelesen, und es ist genau so gut wie damals - ich lese es jetzt auch mit ganz anderen Augen, da ich jetzt auch viel mehr vom Leben weis, als mit 17 Jahren.
Wie dem auch sei, die titelgebende Novelle ist eine Erinnerung an einem Ausflug einer Mädchenschule in Mainz kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Erzählerin Netty - also wohl die Autorin selbst, die eigentlich Netty Reiling-Radvanyi hieß - im mexikanischen Exil denkt an diesen Ausflug zurück, und über ihre Mitschülerinnen, die sich später entweder gegen das Naziregime wendeten, oder Mitläufer wurden, die dann ihre geehrte alte Lehrerin als Judensau beschimpften. Die Novelle ist somit ein sehr gutes Spiegelbild der Schicksale des 20. Jahrhunderts. Die "toten Mädchen" im Titel selbst sind zweideutig, denn entweder ist es so, dass die später nicht mehr dieselben waren, die sie zur Zeit des Ausflugs waren, oder sie wurden entweder vom Naziregime ermordet oder kamen mitsamt ihren Familien bei den Bombardierungen des Krieges um.
Meiner Meinung nach ist dies wohl die beste Erzählung Anna Seghers, und es ist schade, dass selbst heute nicht soviel darüber geredet wird, wie zum Beispiel Das siebte Kreuz oder Transit.
Ich möchte hier zudem noch eine weitere Novelle aus dem Band erwähnen, "Post ins Gelobte Land", die wohl jüdischste Geschichte die Seghers je geschrieben hatte. Die Novelle ist meiner Meinung nach auch ein Statement dafür, dass ein Jüdischer Staat notwendig ist - und hier muss man bedenken, dass Anna Seghers später in der DDR, in den Jahren 1967 und 1973 sich weigerte, Israel als faschistischen Staat zu defammieren, da sie zeitlebens eine stolze Jüdin blieb. Die Tatsache, dass das Gebetbuch aus ihrer Kindheit und Jugendzeit in der Schublade neben ihrem Bett lag, sagt wohl da so einiges aus.
Das sind also die Bücher, die mich dieses Jahr so bewegt haben.